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Personensuche im Netz: Ich ist ein Anderer

Virtuelle Selbstfindung Ich, ich, ich, ich, ich, ich und ich

Gar nicht so einfach, sich im Web mit einem Allerweltsnamen einen Namen zu machen: KulturSPIEGEL-Redakteur Tobias Becker hat sieben andere Tobias Beckers getroffen, die ihm im Internet die Identität streitig machen. Ein Reisebericht.

Ich heiße Tobias Becker. Ich bin Fußballprofi, ich bin Künstler, ich bin Zehnkämpfer, ich bin Historiker, ich bin Journalist, ich bin DJ, ich bin Web-Designer, und ich werde Klimaforscher. Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

In der Facebook-Gruppe "Tobias Becker" haben sich 25 Tobias Beckers mit mir verbunden, insgesamt stoße ich in dem sozialen Netzwerk auf annähernd 200 Namensvettern, beim Ego-Googeln auf noch einige mehr, zum Beispiel auf den Bandleader der Tobias Becker Bigband. Gar nicht so einfach, da den Überblick zu behalten - und sich mit einem Allerweltsnamen einen Namen zu machen.

Nun ist es unwahrscheinlich, dass einem Tobias Becker das passiert, was den Tobias Beckers in der Filmkomödie "Endlich Urlaub!" passiert, die immer mal wieder in den Dritten Programmen läuft, etwa am 28. Juni im WDR: dass er im selben Ferienhaus landet wie ein anderer Tobias Becker - und dass am Ende seine Frau den Partner tauscht. Wahrscheinlich aber ist es, dass ein Tobias Becker im Google-Ranking abgehängt und deshalb online verwechselt wird. Für sein Personal Branding, seine Markenpflege, ist das eine Katastrophe: "Wenn Sie heutzutage nicht über Google gefunden werden, ist es beinahe so, als existierten Sie gar nicht", mahnt der Medienwissenschaftler Jeff Jarvis in seinem Bestseller "Was würde Google tun?". Zugespitzt: ohne digitale Identität keine analoge Identität. "Ich wette", schreibt Jarvis, "bald geben Eltern ihren Kindern besonders ausgefallene Namen, damit sie bei einer Google-Suche auffallen."

Wettlauf ums Google-Ranking

Noch im Mittelalter gab es nur Rufnamen; erst als die Bevölkerung wuchs und mobiler wurde, setzten sich Nachnamen durch. Vielleicht verlangt das Internet also irgendwann nach einem weiteren Schritt. Meine Eltern konnten das nicht ahnen, als sie mich 1977 Tobias nannten. In den Sechzigern hatte sich der Name langsam verbreitet, vielleicht wegen des Ich-Erzählers im Roman "Stadtgespräch" von Siegfried Lenz, in den Siebzigern war er modisch geworden, vielleicht wegen des Puppenfilms "Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt", in den Achtzigern und in den Neunzigern setzte er sich dauerhaft in den Top Ten fest, bevor er in den Nullerjahren absank; in Österreich belegt er bis heute Top-Platzierungen. Das Gedränge im Internet, so viel steht fest, wird noch größer, wenn all die Tobias Beckers erst einmal erwachsen sind.

Wer gewinnt den Wettlauf ums Google-Ranking? Gut möglich, dass ich auf Dauer zurückfalle hinter den Zehnkämpfer Tobias Becker, 18, der die 100 Meter laut Internetquellen in beneidenswerten 11,47 Sekunden läuft, und auch hinter den Fußballprofi Tobias Becker, 24, der bei 1,82 Meter Größe beneidenswerte 76 Kilo wiegen soll; noch halte ich die Youngster in Schach. Hoffnungslos verloren habe ich schon heute gegen den DJ Tobias Becker, 31, der als Einziger einen Wikipedia-Eintrag hat. Höchste Zeit, die Konkurrenten einmal genauer zu studieren: Ich begegne ihnen täglich, bei Facebook oder bei Xing oder beim Ego-Googeln, ich weiß, wie alt sie sind und wo sie wohnen und manchmal sogar, wie viel sie wiegen, aber getroffen habe ich sie noch nie. Ob sie mir ähnlich sind? Und sympathisch?

Eine Deutschland-Reise soll es zeigen: eine Tour zu den Männern, die den Namen tragen, der doch eigentlich nur mir gehört.

Der Meteorologie-Student und der Medienwirtschaftler

Los geht's in Hamburg, wo ich gleich zwei Namensvettern orte. Da gibt es den reservierten Meteorologie-Studenten Tobias Becker, 21, den sie früher im Fußballverein in Lohne bei Oldenburg Tobi gerufen haben oder Becker, so wie mich im Fußballverein in Wilnsdorf bei Siegen, und dem ich sicher schon mal begegnet bin, weil er in einem Studentenwohnheim am Alsterlauf wohnt, an meiner Joggingstrecke. Sein Geld will er einmal als Klimaforscher verdienen.

Und es gibt den forschen Medienwirtschafts-Studenten Tobias Becker, 22, der ein Ziegenbärtchen trägt, so wie ich als Student, und den sie im schwäbischen Althütte zum Spitznamenkönig gemacht haben: Tobi und Becker, das kennen alle, aber nicht Beckerle, Tobe, Tobel und Tobsen. In Hamburg ist er für ein Praktikum, sonst studiert er in Stuttgart, wo er auch ein Gewerbe für Web- und Printdesign angemeldet hat. Gern würde er mit seiner Homepage auf der ersten Google-Seite auftauchen, "aber es ist unglaublich schwierig, gegen den DJ anzukommen". Aufgelegt hat er eine Zeitlang selbst, aber keinen Techno, sondern HipHop und Reggae, und auch nicht in Clubs, sondern in Webradios.

Der Künstler

Den Künstler Tobias Becker, 34, hat sogar eine Freundin einmal mit dem DJ Tobias Becker verwechselt, weil ein Club dessen Kommen groß bewarb - und weil auch der Künstler damals ab und an den DJ gab: "Was, Tobi!? Du legst in der Maria auf? Wie cool ist das denn?" In seinem Kölner Atelier steht das Fenster weit offen, weil er raucht und weil es sonnig ist und weil das Stimmenmeer einer Kita so angenehm heraufrauscht; er trägt einen roten Fünf-Tage-Bart und Bambus-Flipflops. Einst hat er als Kunstfelsenbauer gejobbt, hat Pinguinbecken, Geiergehege und Thermalbäder gestaltet, was eine hübsche Pointe ist, weil er nun an der Uni Aachen Architekturstudenten unterrichtet und weil ihn als Künstler die Erwartung an die Natur beschäftigt, die Modellhaftigkeit von Landschaft: Häufig baut er sich seine Bilder, fertigt Flüsse und Berge - und malt oder fotografiert sie ab. Mit vollem Namen heißt er Johannes Tobias Raffael Becker, was ihm grandiose Künstlernamen ermöglichen würde, Raffael etwa oder Johannes R. Becker, "aber damit hätte ich früher anfangen müssen", sagt er. "Ich muss mich anstrengen, dann verbindet irgendwann jeder mich mit meinem Namen Tobias Becker."

Der berühmte DJ

Noch hat das Privileg am ehesten der DJ Tobias Becker, genannt Tobi, der unserem Namen zurzeit die größte Ehre macht. Einst hat er eine Banklehre gemacht, "das war die schlimmste Zeit meines Lebens", seit sechs Jahren lebt er von seinem Plattenlabel Platzhirsch und vom Auflegen: im Berliner Berghain, in Tokio und New York, Paris und Barcelona; im September geht er auf Australien-Tour. Als wir uns treffen, trägt er Ringelshirt und Sieben-Tage-Bart, und ein bisschen erinnert er an Moritz Bleibtreu: die Lippen, das Lächeln, die Gesten beim Schnellsprechen.

In einem Industriegebiet in Bonn-Beuel hat er sich ein Studio eingerichtet, inklusive Dachpappen-Dachterrasse mit Blick auf den Post Tower; schräg unter uns rattern die Regionalzüge nach Köln vorbei. Er übertönt sie locker, denn dieser Tobias Becker ist nicht nur der bekannteste, er ist wohl auch der redseligste: einer mit Haltung, mit Botschaft, mit ehrlicher Empörungsbereitschaft, der über Industriebackwaren von Bäckereiketten schimpft, über Pappbecherkaffee von Kaffeeketten und über den "Fluch des Internets und der Technik". Darüber, dass es schwieriger wird, beim Auflegen mit Raritäten zu glänzen, weil fast alles überall permanent verfügbar ist. Darüber, dass er auf "warme analoge Musik" steht, die Macken hat und menschlich klingt, auch wenn sie aus Maschinen kommt. Und darüber, dass es neue Programme gibt, mit denen sogar seine Oma auflegen könnte. Was ihn auf eine Idee bringt: "Du könntest meine Gage einstreichen, den richtigen Namen hast du ja."

Der DJ Tobias Becker und der Journalist Tobias Becker, das kann ich wohl sagen, sie mögen sich, und spricht man mit Namensforschern, dann ist das kein Wunder: Der Soziologe Jürgen Gerhards verficht die These, dass Vornamen auf ein ähnliches soziokulturelles Milieu der Eltern hinweisen. Bei der Gesellschaft für deutsche Sprache erklärt Lutz Kuntzsch, dass der Name auf ein ähnliches Alter hinweist, weil Tobias erst Ende der Siebziger so richtig beliebt wurde und es seit dem Jahrtausendwechsel nicht mehr ist. Und der Germanist Konrad Kunze weist darauf hin, dass der Nachname Becker zwar etwa 200.000-mal vorkommt, sich aber auf Nordbaden, Rheinland-Pfalz, Hessen und Südwestfalen konzentriert. In anderen Regionen gibt es andere Dialekte - so dass sich andere Namen für den entwickelt haben, dessen Vorfahren Bäcker waren: Beck etwa oder Pfister.

Mein Name mag häufig sein, ein Allerweltsname ist er nicht; mit einem Tobias Becker verbindet mich mit einiger Wahrscheinlichkeit einiges. Nomen est omen.

Bekannt ist zudem das Phänomen Selbstbezogenheit: Menschen finden Firmen attraktiv, deren Name ihrem ähnelt, so dass relativ viele Pauls bei Peugeot arbeiten und Roberts bei Renault. Es ist sogar so, dass sich auffallend oft Menschen mit ähnlichen Namen heiraten, was dafür spricht, dass sich zwei Tobias Beckers erst recht verstehen. "Wir sind uns sympathisch, wenn wir Ähnlichkeiten aneinander entdecken", sagt der Psychologe Udo Rudolph, weist aber auch auf eine Gefahr hin: "Der Name ist Teil der Identität, den will ich nicht einfach dupliziert sehen."

Der Historiker

Am häufigsten konfrontiert werde ich im Netz mit Tobias Becker, dem Historiker, der eine Doktorarbeit über populäres Theater um 1900 verfasst. Ich schreibe oft über Theater, habe Theater und Geschichte studiert, habe sogar mal eine Doktorarbeit zu einem Theaterthema geplant, so dass wir ab und an verwechselt werden. Mit verschränkten Armen, in weißem Hemd und kariertem Sakko, sitzt er in seinem Berliner Uni-Büro und erzählt zunächst zögernd: Er ist 30, zwei Jahre jünger als ich, er hat sich zu Schulzeiten gegen den Spitznamen Tobi gewehrt, weil der ihm zu niedlich war, und er wehrt sich heute gegen sogenanntes Regietheater, schätzt eher das museale Berliner Ensemble. Hm, das ist so gar nicht meins. Über seine Promotion hingegen könnten wir uns wohl ewig unterhalten. Darüber, dass Theater mal so etwas war wie eine inszenierte Zeitung, also aktuell. Darüber, dass es mal wie eine Frauenzeitschrift genutzt wurde, also für Modetipps. Und darüber, dass ihn die Veranstalter einer Londoner Wissenschaftskonferenz nach der Google-Recherche für einen DJ hielten - und ihn trotzdem einluden. Oder gerade deswegen.

Der Zehnkämpfer

Auch Zehnkämpfer Tobias Becker, Tobi genannt und früher manchmal Dumbo, wegen seiner leichten Segelohren, könnte im Netz verwechselt werden, natürlich, selbst wenn er mit 18 schon der Held lokaler Medienberichte ist. Ich treffe ihn bei einem Wettkampf in Winsen an der Luhe, nahe Lüneburg, und bin sofort neidisch, nicht auf die Silberkette oder die ultraverspiegelte Sonnenbrille, auch gar nicht so sehr auf die Muskelberge zum noch bartfreien Gesicht, aber auf das Sponsorenshirt mit Aufdruck "Tobias Becker". Das macht was her. Angereist ist er aus Buschhütten bei Siegen, wo auch ich einst aufgewachsen bin und mich als Leichtathlet versucht habe, leider mit weniger Talent. Für die Qualifikation zur Deutschen Meisterschaft lässt er an diesem Wochenende seine Geburtstagsparty sausen - und wird belohnt. Er mag ein Fremder sein, aber auch mich freut das. Es ist, als jubelte man sich selber zu.

Der Fußballer

Erfolg hätte der Leichtathlet Tobias Becker auch als Fußballer haben können; in einer D-Jugend-Saison schoss er 54 Tore: eine Bilanz, die den Fußballprofi Tobias Becker beeindruckt, den ich in der Chemnitzer Bar Brazil treffe, wo sich Besucher nach ihm umdrehen. Der 24-Jährige trägt einen Drei-Tage-Bart und eine Fußballerfrisur; gerade haben die Zeitungen gemeldet, dass er zum 1. FC Magdeburg wechselt. Aufgewachsen ist Becks, wie ihn Freunde und Fans nennen, auf einem Bauernhof in Schildau, wo er beim Bolzen einmal ein Huhn erwischt hat; es überlebte den Schuss nicht. Mit 14 kam er aufs Sportinternat nach Chemnitz und kickte fortan für den Chemnitzer FC, wie einst Michael Ballack. Zuletzt schoss er den Siegtreffer im Endspiel des Sachsenpokals; drei Stunden lang schrieb er anschließend Autogramme. Nun also der Wechsel nach Magdeburg, nach zehn Jahren. Die Tradition dort sei größer, sagt er, das Stadion voller, die Chancen für einen Aufstieg besser. Er will es noch einmal wissen, will sich nach Abschluss seines Sportstudiums auf die Fußballkarriere konzentrieren.

Ich werde ihm die Daumen drücken, wenn auch nicht uneigennützig: Zur Fußball-WM 2014 will ich ein Nationaltrikot tragen, mit Rückenaufdruck "Tobias Becker".